Ausgabe 3/2022, September

WIdO-Themen

Onkologische Zentren: Niedrigere Sterblichkeit bei Krebspatienten

Die Chance, eine Krebserkrankung zu überleben, steigt deutlich, wenn die Patientinnen und Patienten in einem von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Zentrum behandelt werden. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie, für die sowohl Abrechnungsdaten der AOK als auch Daten aus Krebsregistern ausgewertet wurden.

Die groß angelegte Kohortenstudie „Wirksamkeit der Versorgung in onkologischen Zentren“ (WiZen) zeigt auf der Basis von bundesweiten AOK-Abrechnungsdaten und Daten aus vier regionalen klinischen Krebsregistern einen Überlebensvorteil für Patientinnen und Patienten mit Krebs, die in zertifizierten Zentren behandelt werden. Ihre Sterblichkeitsrate lag bei allen untersuchten Krebserkrankungen niedriger als bei Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, die nicht von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifiziert waren. Die Daten wurden in den vergangenen drei Jahren im Rahmen eines Innovationsfonds-Projekts ausgewertet.

Besonders groß war laut der Analyse der Krebsregisterdaten der Überlebensvorteil durch die Behandlung in zertifizierten Zentren bei Gebärmutterhalskrebs (minus 25,9 Prozent Sterblichkeit), Tumorerkrankungen des Nervensystems (minus 15,8 Prozent), Lungenkrebs (minus 15,0 Prozent) und Brustkrebs (minus 11,7 Prozent). Positive Effekte mit statistischer Signifikanz zeigten sich auch für das kolorektale Karzinom, Kopf-Hals-Tumore, Prostatakrebs und die Gruppe der gynäkologischen Tumore. Die niedrigere Sterblichkeit in den zertifizierten Zentren war sowohl in den Krebsregisterdaten als auch in den Krankenkassendaten erkennbar (siehe Abbildung).

Durch die risikoadjustierte Analyse einer bundesweiten Kohorte und durch den Vergleich der Kassendaten mit den Krebsregisterdaten wird nach Einschätzung der beteiligten Partner die Evidenz für den Nutzen der Zentrumsbehandlung erheblich gestärkt. Die Ergebnisse der WiZen-Studie zeigen weiterhin, dass Patientinnen und Patienten mit den niedrigeren Tumorstadien I bis III stärker von der Zentrumsbehandlung profitierten als diejenigen mit dem fortgeschrittenen Stadium IV.

Die WiZen-Studie wurde unter der Leitung des Zentrums für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden und der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden durchgeführt. Beteiligte waren die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren e. V., das Wissenschaftliche Institut der AOK, das Institut für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung der Universität Regensburg sowie das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen Dresden. Die klinischen Krebsregister Regensburg, Dresden, Erfurt und Berlin-Brandenburg haben Daten bereitgestellt. Das Projekt wurde durch den Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert.

Christian Günster leitet den leitet den Forschungsbereich Qualitäts- und Versorgungsforschung im WIdO.

„Spezialisierung und Konzentration der Krebstherapie in zertifizierten Krebszentren verbessert die Behandlung und bringt den Betroffenen klare Vorteile.“

Christian Günster leitet den leitet den Forschungsbereich Qualitäts- und Versorgungsforschung im WIdO.

Arzneimittel: Neue ATC-Klassifikation 2022

Die neue anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikation (ATC) mit Tagesdosen (DDD) für den deutschen Arzneimittelmarkt ist im Mai dieses Jahres erschienen. Sie bildet die Grundlage zur Erfassung der Arzneimittelverordnungen in Deutschland und ermöglicht detaillierte Betrachtungen spezifischer therapeutischer Gruppen, wie zum Beispiel Krebstherapeutika.

Im Rahmen des Projekts GKV-Arzneimittelindex im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) wird die internationale ATC/DDD-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr an die Besonderheiten der Versorgungssituation in Deutschland angepasst. Sie dient als Vorlage zur Fortschreibung der amtlichen deutschen Fassung der ATC-Klassifikation.

Der ATC-Index für 2022 enthält 7.179 Codes für verschiedene Arzneistoffe und Arzneistoffkombinationen sowie 3.996 festgelegte Tagesdosen. Damit können im Verordnungsjahr 2021 rund 692 Millionen Arzneimittelverordnungen mit einem Gegenwert von 50,2 Milliarden Euro Nettokosten detailliert ausgewertet werden. Mit den Ergänzungen des WIdO für den deutschen Markt können 29 Prozent der Arzneimittelkosten differenzierter dargestellt werden als dies mit der internationalen Klassifikation möglich wäre. Besonders im Bereich der Wirkstoffe bei Krebs- und Immunerkrankungen werden beispielsweise Tagesdosen für alle verordneten Arzneimittel vom WIdO festgelegt. Zudem können die Proteinkinase-Inhibitoren und die monoklonalen Antikörper neu strukturiert dargestellt werden. Allein in diesen beiden Gruppen gab es in den letzten zehn Jahren 71 neue Arzneimittel. Die Nettokosten beliefen sich in der ambulanten Versorgung im Jahr 2021 auf 6,8 Milliarden Euro, 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Dabei sind unter den 15 umsatzstärksten Arzneimitteln dieser beiden Gruppen mit Nettokosten von 5,1 Milliarden Euro zwei Drittel neue Arzneimittel aus den letzten zehn Jahren.

Die ATC-Klassifikation mit Tagesdosen schafft Transparenz auf dem Arzneimittelmarkt und trägt dazu bei, eine qualitativ hochwertige, therapie- und bedarfsgerechte wie auch wirtschaftliche Arzneimittelversorgung sicherzustellen. Mit der Stammdatei plus stellt das WIdO den Vertragsparteien aus Wissenschaft, Verbänden und Politik die Klassifikation des GKVArzneimittelindex monatlich kostenfrei zur Verfügung.

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Analysen – Schwerpunkt: Krisen

Eingebettete Krisen: Bedrohung und Gelegenheit

Oliver Ilbert, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner, und Tjorven Harmsen, Albert-Ludwig-Universität Freiburg

Krisen sind Situationen der Bedrohlichkeit, Unsicherheit und Dringlichkeit. Die gegenwärtige Zeit ist nicht nur geprägt von einer zunehmenden Zahl von Krisen, sondern auch durch eine qualitativ neuartige Form, die sich durch soziale, zeitliche und räumliche Entgrenzung auszeichnet. Bei derartig eingebetteten Krisen liegen Auslöser und Ursachen teilweise innerhalb der von Krisen erfassten Systeme, teilweise in deren institutionellem und sozialem Kontext. Akute Lagen entwickeln sich aus Phasen latenten Krisenempfindens. Eingebettete Krisen treten gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Gesellschaft auf. Sie sind untereinander verbunden, da sie auf denselben Ursachenkomplex zurückzuführen sind. Resilienz kann nicht mehr allein durch professionelles Krisenmanagement erreicht werden. Vielmehr müssen Krisen als wichtige Gelegenheiten begriffen werden, auch die ihnen zugrunde liegenden strukturellen Probleme zu bearbeiten.

Gesundheitssystem zwischen Krise und Integration: Lehren aus 30 Jahren Fluchtmigration

Kayvan Bozorgmehr, Louise Biddle und Nora Gottlieb, Universität Bielefeld

Deutschland erlebte wiederholt Zuwanderungsbewegungen flüchtender Menschen aus verschiedenen Ländern. Der rechtliche Status, der Zugewanderten in den letzten 30 Jahren zugeteilt wurde, ist dabei sehr unterschiedlich. Der Beitrag untersucht, wie sich der Rechtsstatus auf die Gesundheit, soziale Determinanten und die gesundheitliche Versorgung auswirkt(e), und was das Gesundheitssystem in Deutschland aus der Versorgung der unterschiedlichen geflüchteten Menschen lernen kann. Dies erfolgt beispielhaft anhand der Analyse gesundheitlicher Auswirkung der Regelungen zu Verteilungsquoten, zu Wohnortauflagen, zur Unterbringung, zur Dauer des Asylverfahrens, zum Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Familiennachzug und zu Ansprüchen auf Gesundheitsleistungen. Es wird deutlich, dass eine integrative Politik mit Blick auf Effektivität, Effizienz und Bedarfsgerechtigkeit die bessere Krisenantwort ist.

Resilienz im Gesundheitssystem durch Innovation und staatliches Handeln

Annka Liepold, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, München

Resilienz im Gesundheitswesen ist auch eine politische Aufgabe, deren Ausbau der Staat vereinfachen und unterstützen sollte. Denn die staatliche Daseinsvorsorge umfasst auch die medizinische Grundversorgung. Deshalb ist es wichtig, dass das Gesundheitswesen gerade auch in Krisensituationen die Versorgung der Patientinnen und Patienten gewährleisten kann. Resilienzsteigernde Maßnahmen verursachen jedoch oftmals Mehrkosten, und es gilt zu klären, wer diese tragen muss. Neben Erkenntnissen aus der Corona-Pandemie widmet sich dieser Artikel vor allem auch Ansätzen zur Resilienzsteigerung bei der Medikamentenversorgung und beleuchtet die Chancen einer umfassenden Digitalisierung des Gesundheitswesens.